Alla Serobyan interviewte in Berlin die AGA-Vorsitzende Dr. Tessa Hofmann aus Anlass der Verabschiedung einer Gesetzesnovelle durch das französische Parlament. Danach ist Genozidleugnung in Zukunft in Frankreich empfindlich teuer. Wie aber sieht es in Deutschland aus?

Frage: Wie schätzen Sie den Beschluss des französischen Senats in Bezug auf die Pönalisierung der Genozidleugnung und zwar am armenischen Volk ein?

Antwort: Das aus zwei Kammern – Nationalversammlung und Senat – bestehende Parlament Frankreichs hat am 23.12.2011 bzw. 23.01.2012 sozusagen im zweiten Anlauf das bestehende „Gayssot-Gesetz“ novelliert, d.h. erweitert. Das 1990 verabschiedete „lois Gayssot“ stellte bis dahin nur die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe, die während des Zweiten Weltkrieges begangen wurde, darunter insbesondere die Vernichtung der Juden Europas. 2005 scheiterte ein erster Versuch zur Erweiterung dieser Gesetzentwurf an einer Intervention des damaligen Präsidenten Jacques Chirac. Unabhängig von dessen Gründen war der damalige Entwurf kritikwürdig, weil er nicht universell war, d.h., er war lediglich auf den Genozid an den Armeniern gemünzt. Die jetzt verabschiedete Gesetzesvorlage vermied diesen Fehler. Sie bezieht sich auf die Leugnung aller „anerkannten“ Genozide, wozu dann auch der Völkermord an den Armeniern gehört, der ja 2001 per Gesetz vom französischen Gesetzgeber und Präsidenten „anerkannt“ wurde. Leider bleibt durch diese Verfahrensweise, die das im Fall der osmanisch-türkischen Verbrechen fehlende internationale Strafgerichtsurteil ersetzt, unbefriedigend. So droht Genozidleugnern zwar künftig eine abschreckend hohe Strafe von 45.000 Euro für die Leugnung des Genozids an den Armeniern, aber die zeitgleich an Aramäern/Assyrern oder Griechen begangenen Verbrechen können weiterhin ungestraft lautstark geleugnet, gerechtfertigt oder bagatellisiert werden, weil ja der französische Gesetzgeber diese bisher noch nicht „anerkannt“ hat. Gleiches gilt für sämtliche übrigen vor 1948 begangenen Völkermorde. Dennoch: Für die Bekämpfung von Genozid stellt die Verabschiedung des erweiterten Antileugnungsgesetzes einen wichtigen Beitrag dar. Genozidleugnung ist ein integraler Bestandteil dieses Verbrechens und bildet fast regelmäßig dessen letzte Stufe, die der jüdische Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel treffend als „zweite Tötung“ bezeichnet hat. Die armenische Gemeinschaft hat weltweit seit Jahrzehnten diese „zweite Tötung“ erlitten. Es ist mehr als Zeit, dass sie davor künftig geschützt wird, zumindest in einem Staat, in dem eine halbe Million armenischstämmiger Menschen lebt (und übrigens auch 400.000 türkeistämmige Menschen).

Frage: Welche Ergebnisse kann es in Europa haben?

Antwort: Das bleibt abzuwarten, denn die bisherige strafrechtliche Praxis ist zu gering, um allgemeine Schlüsse zu ziehen. Frankreich ist keineswegs der erste europäische Staat, der ein solches Gesetz verabschiedet hat. Bereits im November 2011 hat die Slowakei in ähnlicher Weise ein bestehendes Anti-Leugnungsgesetz erweitert. Spanien war bis dahin der einzige EU-Staat mit einem universellen Antileugnungsgesetz. Einen anderen Weg ging die Schweiz, wo die Bestrafung von Genozidleugnung Bestandteil des Antidiskriminierungsgesetzes ist; das bedeutet, dass nachgewiesen werden muss, dass eine Leugnung von Völkermord aus rassistischen Gründen erfolgte.

Blicken wir auf die europäische Rechtspraxis, dann hat es bezüglich des Genozids an den Armeniern bisher Strafverfahren auf der Grundlage dieser Gesetze nur in der Schweiz bzw. in Deutschland gegeben. In der Schweiz wurde 2007 der türkische Parteiführer und Linksnationalist Dr. Doğu Perinçek in allen drei Instanzen wegen Genozidleugnung verurteilt, nachdem er gezielt in der Schweiz sowie Deutschland die Rechtssysteme dieser Staaten durch öffentliche und wiederholte Leugnung des Genozids an den Armeniern provoziert hatte. Gegenwärtig sitzt übrigens D. Perinçek in seiner Heimat in Untersuchungshaft, weil ihm im Zusammenhang mit den „Ergenekon“-Ermittlungen staatsfeindliche Tätigkeiten vorgeworfen werden. Es ist jedoch interessant, dass trotzdem diese kleine, aber höchst aktive linke Splitterpartei in der Türkei lautstark gegen Frankreich demonstriert. Es deutet darauf hin, dass die Işçi Partisi, wie schon oft in der Vergangenheit, immer dann benutzt wird, wenn sich die Regierung nicht selbst die Finger schmutzig machen will. Die deutsche Verwaltungsjustiz musste 2006 ersatzweise den Strafrechtsparagraphen gegen die Störung der Totenruhe in Anspruch nehmen, um Ausschreitungen seitens der „Operation Talaat Pascha“ zu unterbinden, wie Doğu Perinçek und seine Anhänger ihre damaligen öffentlichen Leugnungsauftritte betitelt hatten. (siehe http://www.aga-online.org/criminallaw/index.php?locale=de)

Frage: Wie wurde die jüngste Entwicklung in Deutschland wahrgenommen?

Antwort: Im Vergleich zu unserem westlichen Nachbarland blieb die Medienberichterstattung relativ verhalten. Aber es gibt auch hier, wie in Frankreich Stimmen prominenter Intellektueller, die sich grundsätzlich gegen ein Antileugnungsgesetz wenden, weil sie es als Einschränkung der Meinungsfreiheit ansehen bzw. nicht wahrnehmen, was durch fortgesetzte Leugnung den Opfern und ihren Nachfahren zugemutet wird. Der türkische Regierungschef hat mit seinem großkotzigen, adrenalingesteuerten Auftreten allerdings seinem Land keinen Gefallen getan. In etlichen deutschen Medienkommentaren wurde es als überzogen kritisiert. Andererseits gibt es schon des längeren eine Tendenz, in der internationalen Berichterstattung über die Auswirkungen des Genozids an den Armeniern so zu tun, als handele es sich um ein Problem ausschließlich der Staaten Armenien und Türkei, deren gegensätzliche Standpunkte dann in der Regel kommentarlos referiert werden. Unerwähnt bleibt dabei oft, dass der Mainstream der Wissenschaftler – Historiker, Genozidforscher – von einem Genozid ausgeht und dass es bereits 1919 und 1920 eine juristische und politische Auseinandersetzung im Osmanischen Reich gab, die freilich von Mustafa Kemal abgewürgt wurde; des Weiteren, dass Deutschland 1921 durch den Prozess gegen Soghomon Tehlirjan juristisch ebenfalls mit dem Genozid im Osmanischen Reich konfrontiert war.

Frage: Sehen Sie eine Möglichkeit, dass so ein Gesetz auch in Deutschland initiiert wird?

Antwort: Ein solcher Entwurf liegt seit über drei Jahren auf dem Tisch des Bundestages, und zwar seit dem 15.10.2008. Er wurde von den Juristen der Menschenrechtsorganisation „Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung“ erarbeitet, deren Vorsitz ich führe. 2010 schrieb uns der Petitionsausschuss des Bundestages, dass ein Berichterstatter aus den Reihen der Abgeordneten eingesetzt sei, womit das Petitionsgeschäft in seine Endrunde geht. Aus aktuellem Anlass haben wir heute die Vorsitzende des Petitionsausschusses schriftlich gebeten, den derzeitigen Sachstand mitzuteilen. Unser Entwurf knüpft, ähnlich wie später das französische Vorgehen, an einen schon vorhandenen Strafrechtsartikel – §130 StGB (Deutschland) – an bzw. schlägt eine Erweiterung der Pönalisierung über die Holocaustleugnung hinaus vor. Da allerdings der deutsche Gesetzgeber 2005 den osmanischen Genozid an über 3 Millionen Christen nur implizit und nicht explizit „anerkannt“ hat, mussten wir bei der Definition der infrage stehenden Genozide etwas anders vorgehen als es in Frankreich möglich war. Die Einzelheiten sind im Internet nachlesbar: http://www.aga-online.org/petition/detail.php?locale=de&petitionId=6 Wer möchte, kann dort auch die on-line Petition unterschreiben. Für den Petitionsausschuss zählen allerdings nur Stimmen von Personen, die in Deutschland ansässig sind. Eine Staatsbürgerschaft wird nicht vorausgesetzt. Die Beteiligung von Personen armenischer Herkunft ist bei derartigen Petitionen erfahrungsgemäß leider gering. Ob unsere Gesetzesinitiative gegenwärtig Erfolg haben wird, hängt von den politischen Bedürfnissen und Einschätzungen im Parlament ab. So besteht zum Beispiel unter deutschen Sozialdemokraten und Grünen die logisch nicht nachzuvollziehende Furcht, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land gefördert werden, falls der Genozid an den Armeniern und ihren Leidensgenossen förmlich vom deutschen Gesetzgeber anerkannt wird.

Frage: Wie schätzen Sie das türkische Verhalten gegen das Gesetz ein?

Antwort: Die monatelang gegen einen souveränen Staat und bedeutenden Handelspartner der Türkei aufgebauten Drohgebärden werden auf die Urheber zurückschlagen und bestätigen leider die negative Meinung zahlreicher Europäer über Türken. Es ist zu vermuten, dass damit weniger die französischen Gesetzgeber abgeschreckt, als die eigene türkische Gesellschaft beschwichtigt werden sollte, denn die bisherige Erfahrung zeigt, dass die Außenpolitik und Außenhandelspolitik der Türkei ihre eigenen Wege geht. Die Türkei kann aber auf Dauer nicht einer kritischen Vergangenheitsaufarbeitung ausweichen, falls sie international als moderner Rechtsstaat wahrgenommen werden will. In der türkischen Zivilgesellschaft mehren sich inzwischen Stimmen, die eine solche Aufarbeitung und auch Verantwortungsübernahme fordern. 19 ganz Mutige haben sogar im Dezember 2011 einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie daran erinnerten, dass die Meinungsfreiheit nicht als Recht zu Leugnung von Völkermord missverstanden werden darf und Frankreich das Recht zu entsprechenden strafrechtlichen Schritten besitzt (vgl. http://www.collectifvan.org/article.php?r=0&id=59693). Leider sorgen Massenrepressionen des türkischen Staates gegen kritische Journalisten, Verleger, Autoren und sogar Übersetzer wie zuletzt im Oktober 2011 dafür, dass die Zahl der Mutigen weiterhin gering bleibt. Obwohl die AKP-Regierung unter Führung von Erdoğan und Gül inzwischen fest im Sattel sitzt und ihre säkular-nationalistischen Konkurrenten in der CHP ausgeschaltet hat, verfolgt sie aber fast bruchlos deren Politik, wenn es um den Genozid in der Endphase osmanischer Herrschaft geht. Ein Paradigmawechsel hat mithin in diesem Bereich nicht stattgefunden.

Links:

http://hhpress.am/?sub=hodv&hodv=20120211_2&flag=am (Ֆրանսիան ո՛չ առաջինն է, ո՛չ՝ վերջինը) Artikel in Tageszeitung  ( 159 kb)