HAYsociety: In jüngster Zeit fallen zuerst drei Aktionen ins Augen, in die auch die AGA involviert war bzw. die Aktionen initiiert hat: erstens haben Sie 2008 eine Petition zur Erweiterung der „Strafbarkeit der Völkermordleugnung – Änderung des § 130b StGB“, beim Petitionsausschuss des Bundestages beantragt; zweitens protestierten Sie gegen die Verleihung des Steiger Preises an Erdogan und drittens protestierten Sie gegen die Verehrung von Völkermordverbrechern auf dem muslimischen Friedhof in Berlin. Wie erfolgreich sehen Sie sich mit diesen Aktionen?

Dr. Tessa Hofmann: Um Erfolge bemessen zu können, muss die Ausgangshaltung definiert werden. Unsere Initiative zur Erweiterung des bestehenden bundesdeutschen Strafrechtsartikels 130 war und ist ein Test, der in einem Land erfolgt, wo der Gesetzgeber noch keine explizite Anerkennung des Genozids an den Armeniern und ihren Mitopfern – Aramäern/Assyrern sowie Griechisch-Orthodoxen – ausgesprochen hat. Insofern ist die Ausgangslage anders bzw. schwieriger als in Frankreich, und wir alle wissen, wie problematisch die Verabschiedung eines Antileugnungsgesetzes dort ist. Gemessen daran ist es geradezu erstaunlich, dass der bundesdeutsche Gesetzgeber unsere Initiative nicht einfach weggebürstet bzw. prompt abgelehnt hat, sondern seit nun mehr vier Jahren „köchelt“. Persönlich betrachte ich das unter den gegebenen Verhältnissen als einen gewissen Erfolg, denn damit halten wir den Fuß in der legislativen Tür.

Der Massenprotest gegen den Steiger Award war eine ganz andere Kategorie von Aktion. Binnen kurzer Zeit seit Bekanntwerden der Pläne zur Ehrung von Regierungschef Erdogan haben fast 600 Menschen unsere online-Protestbriefaktion an die Oberbürgermeisterin Bochums und die Hellen Media Projekte GmbH mitgetragen und dazu auch zum Einlenken der Veranstalter bzw. zur Absage Erdogans beigetragen.

Die dritte Aktion wird uns, so wie die erste, sicherlich über längere Dauer beschäftigen, denn der Anlass für sie reicht weit in die Vergangenheit zurück. Der Kult um hochrangige Genozidtäter in der Türkei und in der türkeistämmigen Diaspora1 ist indikativ für den perversen Umgang mit der eigenen Geschichte und die der Realität entgegengesetzte Wahrnehmung der Geschichte. Sie hat unmittelbare negative Auswirkungen für den türkischen Umgang mit den Nachbarstaaten Armenien und Griechenland bzw. für das krass negative Bild von Armeniern und Griechen, wie es noch immer in türkischen Eliten und auch der allgemeinen Gesellschaft vorherrscht. In nationalistischen türkischen und aserbaidschanischen Kreisen Berlins scheint der Kult um die in Berlin-Neukölln 1922 beigesetzten Genozidtäter Cemal Azmi („der Schlächter von Trabzon“) und Dr. med. Bahaddin Şakir geradezu identitätsstiftend zu sein. Umso unerträglicher ist das indifferente Schweigen der zuständigen Berliner Behörden. Mit unserer Aktion am 24. April 2012 und auf unserer Webseite haben wir eine gewisse Medienaufmerksamkeit erzielen können. Aber an diesem wie anderen Beispielen zeigt sich, dass immer wieder nachgefasst werden muss.

HAYsociety: Wie viel Unterstützung erhalten Sie beispielsweise von armenischen Gemeinden und Vereinen in Ihren Bemühungen?

Dr. Tessa Hofmann: Unseren Offenen Brief an den Regierungschef des Landes Berlin – der Regierende Bürgermeister Wowereit – und den Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky unterzeichneten die beiden armenischen Gemeinden Berlins. Keine Reaktion erhielten wir leider auf unsere Bitte, dass auch die Föderation der Aramäer (Suryoye) in Deutschland diesen Brief mit unterstützt – vielleicht aus Angst, die Beziehungen zu türkischen diplomatischen Einrichtung und zur türkischen Regierung zu verderben oder syrisch-orthodoxen Interessen in der Türkei zu schaden? Hier vermisst AGA die Solidarität, die wir sonst immer und uneingeschränkt den Anliegen dieser Gemeinschaft erwiesen haben.

Während die Protestaktion gegen den Steiger Award vor allem von kurdischen bzw. alevitischen Einwohnern Deutschlands mitgetragen wurde, erreichten wir bei Online-Protestaktionen gegen eine Leugnungstour des schottischen Genozidleugners Prof. Norman Stone und seines wissenschaftsfernen schweizerischen Gesinnungsgenossen Guillaume-Albert Houriet binnen Wochenfrist nur etwa 170 Unterschriften. Die Gründe für diese geringere Resonanz sind komplex. So zeigte sich bei der Protestaktion gegen Leugnungsveranstaltungen in öffentlich-rechtlichen Einrichtungen – Universität Hamburg und Staatliches Völkerkundemuseum München –, dass die örtlichen oder regionalen armenischen Selbstorganisationen Schwierigkeiten besaßen, ihren Protest rechtzeitig und öffentlich zu artikulieren bzw. organisiert zu handeln, indem sie ihre Erfahrungen mit diesen Veranstaltungen rechtzeitig weiter meldeten.

Zu den komplexen Faktoren gehören ferner wohl auch: Unerfahrenheit, Resignation, Desinteresse sowie eine generelle Schwierigkeit, die nachwachsenden Generationen zu motivieren. Denn ich glaube nicht, dass eine spezifische Abneigung besteht, AGA nicht zu unterstützen.

HAYsociety: Welche Formen des Protestes stehen Ihnen zur Verfügung und welche sehen Sie als die effektivsten an? Planen Sie für die nächste Zeit neue Protestaktionen?

Dr. Tessa Hofmann: Uns stehen, wie allen Einwohner/Innen dieses Rechtsstaats, sämtliche rechtlichen Mittel des Protestes zu Gebote, vom Leser- und Protestbrief bis zur Mahnwache und Demonstration. Welche davon jeweils die effektivsten sind, hängt von dem Anlass, der zur Verfügung stehenden Zeit und anderen Faktoren ab. Insgesamt muss leider festgestellt werden, dass diese Mittel in Deutschland nicht genügend ausgeschöpft werden, nicht nur nicht von Armenier/Innen, sondern von der Bevölkerung insgesamt. In Großbritannien und vor allem USA herrscht eine ganz andere Kultur, politische Entscheidungsträger sowie Personen des öffentlichen Lebens in die Verantwortung zu nehmen. Gegen Veranstaltungen, auf denen es mit Sicherheit zur Leugnung von Völkermord bzw. zur Verunglimpfung der Opfer als Landesverräter und somit Selbstverschulder ihrer Ermordung kommt, helfen auch einstweilige verwaltungsgerichtliche Verfügungen. Diese sind gegen die Veranstalter zu erstatten, wobei in Deutschland erschwerend hinzukommt, dass wir hier kein umfassendes Antileugnungsgesetz besitzen, sondern ersatzweise mit Strafrechtsartikeln vorgehen müssen, die die Störung des öffentlichen Friedens, Volksverhetzung, Verunglimpfung der Toten und ähnliches unter Strafe stellen.

Wir sehen uns aber nicht in erster Linie als eine Protestorganisation, sondern möchten einen Beitrag zur politischen Bildung leisten. Das erreichen wir mit diversen Mitteln, mit Workshops, Vorträgen, Lesungen, Konzerten. Von zunehmender Bedeutung ist für uns der interkulturelle Dialog. Zur Zeit bereiten wir gemeinsam mit der Deutsch-Armenischen Gesellschaft das Projekt „Das Unsagbare schreiben“ vor, das Prosa über Völkermorderfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg untersucht und unter anderem beteiligte armenische und türkische Autoren zusammenführen wird. Das Konzept für dieses Projekt steht. Nun gilt es, die Finanzierung und Logistik zu sichern.

HAYsociety: Ist es nicht eher so, dass Sie in Ihrem Protest erst reagieren, wenn Missstände auftauchen oder haben Sie eine bestimmte aktive Systematik entwickelt?

Dr. Tessa Hofmann: Zwei der drei von Ihnen eingangs erwähnten AGA-Aktionen waren keineswegs reaktiv angelegt. Sowohl die von AGA in den Bundestag eingebrachten Petitionen – bisher drei –, als auch unsere Dokumentation des türkischen Täterkults sind Eigeninitiativen. Übrigens liegt es in der Natur mancher AGA-Projekte, diese nicht an die große Glocke zu hängen, bevor sie ein gewisses Stadium der Reife oder Entscheidung erreicht haben. Damit wollen wir verhindern, dass sie durch Gegenmaßnahmen einen voreiligen Tod sterben.

HAYsociety: Wie schätzen Sie die politische Arbeit der armenischen Kulturvereine und Gemeinden ein? Könnten Sie sich aufgrund Ihrer langjährigen politischen Erfahrung vorstellen, auch eine Anlaufstelle zur politischen Bildung und Beratung in Organisationsfragen für die Arbeit armenischer Vereine und Gemeinden zu werden? Und haben Sie bereits Seminare und Schulungen in dieser Richtung geplant und durchgeführt?

Dr. Tessa Hofmann: Die Erfahrung sowohl mit der „Großoffensive Talat Pascha“, die im März 2006 von türkisch-nationalistischen Organisationen in Berlin eingeleitet wurde, also auch die jüngsten Erfahrungen von 2012 haben in der Tat beim AGA-Vorstand den Gedanken an Workshops und Schulungen aufkommen lassen. Konkret: In der Genozidforschung gilt die Leugnung als der letzte und integrale Bestandteil jeden Völkermords. Die anhaltenden und gezielten öffentlichen Leugnungsaktionen türkischer Nationalisten halten dieses Verbrechen auch nach fast 100 Jahren immer noch akut bzw. verhindern jegliche Heilung bei den Nachfahren der Opfer. Aktiver Opferschutz bedeutet in diesem Fall die Verhinderung weiterer Leugnungen. Die Juristen unter den AGA-Mitgliedern sind bereit und in der Lage, entweder auf Anfrage einzelner Gemeinden oder auch des Zentralrats der Armenier Schulungen zu erteilen, damit wir bei der nächsten „Offensive“ besser vorbereitet sind und gezielter handeln, auch juristisch. Besonders gern möchten wir diese Aufgabe in Zusammenarbeit mit Jurist/Innen aus der armenischen Gemeinschaft Deutschlands durchführen, die als Multiplikatorinnen in ihre Gemeinschaften zurückwirken könnten. Bei Bedarf lässt sich auch in Berlin ein Workshop für externe Teilnehmer/Innen durchführen. Türkischen Medien war zu entnehmen, dass mit einer gezielten Leugnungs“offensive 2015“ zu rechnen ist, also für die nächsten 2 ½ Jahre. Darauf sollten wir uns vorbereiten. Und schließlich kann, als Ergebnis unserer Beratungen, eine Art Ratgeber erstellt werden, was im Notfall zu tun ist. Wir werden nach der Sommerpause mit Handlungsvorschlägen an den ZAD sowie an die größeren armenischen Gemeinden in urbanen Ballungszentren herantreten und hoffen auf Interesse und Unterstützung.

HAYsociety: In wie fern färbt die Beschäftigung mit Verbrechen und Verbrechern auf Ihre Gemütsverfassung? Werden Sie durch diese Beschäftigung nicht doch auch ein Teil des Bösen, zumindest als indirekte Propaganda und Glorifizierung?

Dr. Tessa Hofmann: Interessante Frage. Dachten Sie dabei an Friedrich Nietzsches Ausspruch: „Und wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“? Ich glaube, jeder der sich beruflich oder im ehrenamtlichen Einsatz mit dem größtmöglichen Verbrechen der Menschheit beschäftigt oder befindet, steckt in einer solchen Gefahr. Andererseits gibt es zahlreiche Techniken der Ablenkung, des Abstands und Ausgleichs, wie sie beispielsweise auch jeder Gerichtspathologe erlernen muss. Für den einen kann dies die Familie, für andere die Natur oder Kultur sein. In der Natur sind wir zum Glück, neben einigen wenigen anderen Primaten, die einzige Spezies, die sich mutwillig, d.h. genozidal vernichtet. Die Kultur lehrt uns, dass Menschen auch zu positiven Leistungen fähig sind. Für mich persönlich kann ich feststellen, dass der Abgrund selbst nach vier Jahrzehnten Beschäftigung mit Völkermord noch nicht in mich hineinblicken konnte.

HAYsociety: Ihr Verein führt den Namen „Arbeitsgruppe Anerkennung – gegen Genozid, für Völkerverständigung“. In wie fern wäre der Zweck Ihrer Arbeitsgruppe erfüllt, wenn „Anerkennung“ tatsächlich stattfinden würde?

Dr. Tessa Hofmann: In erster Linie würden wir uns eine gerichtliche Aufarbeitung wünschen. Da diese bei allen „Altfällen“ – also den vor der Verabschiedung der UN-Konvention 1948 – begangenen Völkermorden schwer zu erreichen ist, bezieht sich Anerkennung auf die ersatzweise legislative Qualifizierung als Genozid. Was den Völkermord an den Armeniern betrifft, ist das nächste große „Anerkennungsdatum“ das Jahr 2015. Wir werden nach den nächsten Bundestagswahlen einen erneuten Anlauf versuchen, der dann hoffentlich die explizite Anerkennung bringt, ohne die bisherigen Eiertänze! Und wichtiger noch als die deutsche „Anerkennung“ ist die des türkischen Gesetzgebers, da er der Rechtsnachfolger des Verursacherstaates ist. Aber wie unser langer Vereinsname auch andeutet, ist es mit der bloßen parlamentarischen Beschlussfassung noch nicht alles getan: Völkerverständigung erfordert mehr, als nur die bloße Anerkennung. Es wird zahlreiche langwierige Anschlussarbeiten im Bereich der Erinnerungspolitik und Aussöhnung geben. Zu nennen wären – die parlamentarische Anerkennung vorausgesetzt – der Bau von Gedenkorten und Informationseinrichtungen in den Ländern Türkei und Deutschland, der Auf- und Ausbau von schulischer und außerschulischer Information über die belastete Vergangenheit, von Schulbuchkommissionen usw.

Schließlich sollten wir alle im Auge behalten, dass bereits errungene Positionen und Fortschritte unablässig verteidigt werden müssen. Ein anschauliches Beispiel liefert hier die Bundesregierung, deren Verlautbarungen zum Völkermord an den Armeniern 2009 und 2010 hinter den mageren Bundestagsbeschluss von 2005 zurückfielen.

Wie Sie sehen: Für eine Selbstauflösung unseres Vereins ist es noch zu früh.

HAYsociety: Vielen Dank!

Links:

Das interview in HAYsociety Armenische Magazin in Deutschland